Als Sprachrohr derjenigen, die Putin verstehen, und als Bedrohung für den Journalismus beschrieben: Die Berliner Zeitung hat sich schnell zu einem der umstrittensten Blätter deutscher Sprache entwickelt. Das liegt vor allem an ihrem Besitzer, der gerne Tabus bricht – etwa wenn er über Denunzianten berichtet.
Rewert Hoffer, Lucien Scherrer (tekst), Nadja Wohlleben (zdjęcia), Berlin
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Ein großes Graffiti an einem alten Plattenbau am Berliner Alexanderplatz schreit „Fuck Putin“. Die Botschaft an der Ecke Liebknecht-Straße/Marx-Allee wirkt wie eine Kampfansage an die ostdeutsche Umwelt. Denn hier, in einem mit proletarischen Fresken geschmückten sozialistischen Prachtbau aus den frühen Siebzigern, befindet sich seit März wieder die Redaktion der „Berliner Zeitung“. Die Rückkehr zum Stammsitz der ehemaligen SED-Zeitung ist symbolisch: Die Berliner Zeitung ist zurück – geografisch und in der öffentlichen Debatte, wo ihr immer wieder eine zu große Nähe zum Kreml vorgeworfen wird.
„Unser Ziel ist es, die unterschiedlichsten Meinungen darzustellen“, sagt Tomasz Kurianowicz, „wir möchten Ihnen den Blick auf eine Perspektive ermöglichen, die andere ignorieren.“ Kurianowicz ist seit 2021 Mitglied der Redaktion. Zuvor war er freier Journalist für verschiedene Medien (u.a. NZZ) und Kulturredakteur bei der Zeit. Tatsächlich ist er ein typischer Vertreter dessen, was er die „linksliberale Blase“ nennt, die ihn heute als Verräter betrachtet. „Das Argument, dass man manchen Menschen keine Plattform geben sollte, ist überhaupt nicht unsere Aufgabe.“ Deshalb werden wir regelmäßig mit Shitstorms bombardiert.“
Die Büros der „Berliner Zeitung“ sind nach Osten ausgerichtet, mit Blick auf die Karl-Marx-Allee, wo einst SED-Prominente von ihrem Volk gefeiert wurden. Die Einrichtung für rund hundert Mitarbeiter ist modern, mit einem farbenfrohen Raum zur Erholung, den der Berliner Verlag von einem Start-up übernommen hat.
„Charité-Stromausfall“ lautet die Schlagzeile des Tages, „Patient umgezogen“. Die Mischung aus Hipster-Startup-Atmosphäre und Nostalgie passt in das redaktionelle und unternehmerische Konzept der Berliner Zeitung. Ziel ist es einerseits, die langsam aussterbenden ostdeutschen Leser zufrieden zu stellen, die die Printausgabe der Zeitung abonnieren. Andererseits will man ein innovatives Digitalunternehmen sein, die deutsche „Washington Post“, das Diskussionen anstößt.
Die Geschäftsführung der Berliner Zeitung auf dem Dach des Hauses des Berliner Verlags (von rechts): Verleger Holger Friedrich, Chefredakteur Tomasz Kurianowicz und Geschäftsführer Mirko Schiefelbein. Das Gebäude und das Pressecafé wurden Anfang der 1970er Jahre erbaut, das Fresko aus der DDR-Zeit trägt den Titel „Die Presse als Organisator“.
„Identitätspolitik für Ostdeutsche“
Mit einer gedruckten Auflage von 72.000 Exemplaren und rund 38.000 digitalen Abonnenten gehört die Zeitung der ehemaligen DDR noch immer zu den kleinen Zeitungen auf dem deutschen Markt. Aber angesichts der Reaktionen, die es hervorruft, ist es derzeit eines der größten. Es sei, so behaupten Konkurrenten, ein halbsilbernes Organ für Putins Verständnis und DDR-Apologeten, eine Gefahr für die Demokratie, deren „unwürdiger“ Verleger Holger Friedrich enteignet werden müsse. Das behauptet zumindest der linksgrüne „Dziennik“.
Die Ablehnung der Berliner Zeitung war unter anderem auf ihren politisch unberechenbaren, teils provokativen Kurs zurückzuführen. Dass bestimmte Autoren einen aktivistischen Ton anschlagen und sich über eine „Diskriminierung“ von „Muslimen“ beschweren, stört die „linksliberale Blase“ kaum.
Noch irritierender ist, dass Zeitungen Leute wie Altkanzler Gerhard Schröder ohne kritisches Urteil zu Wort kommen lassen. Die NATO, erklärte er in einem Gastbeitrag, lehne Russland ab und sei mitverantwortlich für das Fehlen eines Friedensplans für Europa und die Ukraine. Besonders in der ehemaligen DDR fanden solche Stimmen großen Anklang. Auch die „Berliner Zeitung“ betreibt eine Art „Identitätspolitik für die DDR“, wie Chefredakteur Tomasz Kurianowicz es nennt.
Verkörpert und gefordert wird dieser Kurs durch den Verleger Holger Friedrich, einen Ostdeutschen und überzeugten Bewunderer von Sahra Wagenknecht und Egon Krenz, dem letzten Staatsoberhaupt der DDR, der weiterhin die SED-Diktatur vertuscht und die Politik Wladimir Putins rechtfertigt alter imperialistischer und antiamerikanischer Weg. Friedrich wuchs in einem Plattenbau in Ostberlin auf, als IT-Unternehmer wurde er nach der Wiedervereinigung Multimillionär, mit einer Villa in Wannsee, einem Ferrari und einem Vermögen von mehr als hundert Millionen Euro.
Im September 2019 kaufte er die Berliner Zeitung und investierte nach eigenen Angaben „sechs Millionen, vielleicht sieben“. Dank seiner journalistischen Leistung und Einstellung ist der 56-jährige Unternehmer innerhalb weniger Jahre zum Enfant terrible der deutschen Medienbranche geworden. Ihm drohen ähnliche Anfeindungen wie Springer-Chef Mathias Döpfner – ein Mann, den Holger Friedrich nach wie vor in seinen Bann zieht, auch wenn er seine transatlantische Weltanschauung nicht teilt.
Bereits zu Beginn seiner Amtszeit sorgte Friedrich für einen Eklat. Zusammen mit seiner Frau veröffentlichte Silke einen Leitartikel, in dem er unter anderem bedauerte, dass der Westen 2001 die „ausgestreckte Hand“ Wladimir Putins nicht akzeptiert habe. Bald darauf wurde bekannt, dass Friedrich als inoffizieller Mitarbeiter der UB seine Kollegen in der DDR ausspionierte. Ein unabhängiges Gutachten entlastete ihn teilweise, weil er von der Stasi erpresst worden sei und „überwiegend im Offensichtlichen“ berichtet habe und sein Handeln nur in einem Fall Konsequenzen gehabt habe.
Ein Multimillionär, fasziniert von Marx
Als Unternehmer ist Friedrich viel unterwegs, in der Türkei, China und der Schweiz, deshalb trifft er sich per Videoanruf mit der NZZ. Friedrich hat eine Glatze und einen langen Bart wie ein Harley-Fahrer, beendet seine verschlungenen Sätze gerne mit „Ja“, durchsetzt mit englischen Ausdrücken wie „a little unfair“. Vieles, was in den deutschen Medien über ihn geschrieben wurde, hält Friedrich für „etwas unfair“, manches nennt er „Unsinn“, „Schuldzuweisungen“ oder „langweilige Lügen“.
Ein Blick in die Redaktion der Berliner Zeitung. Die Mitarbeiterbestuhlung stammt von einem Startup, das die Räumlichkeiten zuvor angemietet hatte.
Friedrich gefällt die Rolle des Außenseiters, Nonkonformisten, eigenwilligen Ossis, der einst von einem Golf GTI träumte und ihn den Wessis zeigte, aber er passt in kein politisches Schema. „Die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nach Marx hat etwas Faszinierendes, aber es ist auch faszinierend, einen großen Geldbetrag auf dem Konto zu haben“ – ist ein typischer Satz Friedrichs. In solchen Momenten blitzen seine Zähne in seinem Vollbart auf, um ihn zum Lachen zu bringen.
Was er seit 2019 über sich ergehen lassen muss, ist „Mentaltraining“. Laut Friedrich ist die Geschichte eines bösen Verlegers, der die einst angesehene Berliner Zeitung zerstört hat, völlig falsch. Das Gespräch mit der NZZ beginnt mit einer halbstündigen Powerpoint-Präsentation über die kommerzielle und journalistische Entwicklung des Verlags unter seiner Führung. Sein Fazit: Die Zeitung stand einst kurz vor dem Bankrott und wirtschaftet seit drei Jahren profitabel, „ohne russisches Geld, aber dank harter Arbeit“. Zunächst sei es „völlig trivial in der Öffentlichkeit“ gewesen, mit Schlagzeilen wie „Interessanter Trend – Hashtag #kernel #1 in den Twitter-Charts“.
Mit seinem Kauf ging ein erfolgreiches, interessantes Papier einher, das nicht mehr vom „westdeutschen Opportunismus“ geprägt war, sondern weit mehr als nur „Spuren des ostdeutschen Aufstands“ enthielt. Die Frage, was Holger Friedrich unter „ostdeutschem Ungehorsam“ versteht, ist nicht ganz klar. Es scheint oft so widersprüchlich wie seine Arbeiten. Die Rückkehr der DDR will er jedenfalls nicht, anders als andere ostdeutsche Zeitungen wie die Junge Welt. „Gott sei Dank“ sei dieses Land zusammen mit „der ganzen Stasi-Scheiße“ zusammengebrochen.
Gleichzeitig lobt er Bücher, die die SED-Diktatur verharmlosen oder über Egon Krenz reden, dessen geschichtsverwirrende Memoiren in der Berliner Zeitung viel Lob fanden. Auch wenn er den Westen „völlig cool“ findet, bremst ihn die Selbstgerechtigkeit der Westdeutschen. Was ihre eigene Vergangenheit angeht, sei sie „viel vorsichtiger“ gewesen als der Osten, „hier wurde sie, zumindest aus meiner Sicht, sehr überkompensiert.“
Wie steht es um Holger Friedrichs Pro-Putin-Image?
Die Lebenserfahrungen der Ostdeutschen seien, wie Friedrich im vergangenen Oktober in seiner „Berliner Zeitung“ schrieb, „ein bedeutendes Kulturkapital für das ganze Land“. Zweifellos meint er mehr Erfahrung mit Russland. Friedrich ist stolz darauf, als ehemaliger DDR-Bürger Russisch gelernt zu haben und viele Russen zu kennen. Will er nur die heutige russische Politik verstehen oder will er sie rechtfertigen? Auch hier sind die Signale, die es sendet, widersprüchlich.
Einerseits nennt er Putin einen „Verbrecher“, der mit seinem Angriffskrieg „die größte Dummheit“ angezettelt habe. Eine solche Person sollte entthront werden und der Ukraine sollte ihr Land zurückgegeben werden. Andererseits war er der Erste, der das Friedensmanifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterzeichnete, in dem Putin und Selenskyj einander gleichsetzen, als gäbe es keinen klaren Schuldigen. Für besondere Empörung sorgte die Tatsache, dass Friedrich am 9. Mai anlässlich des Jahrestages des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ an einem Empfang in der russischen Botschaft teilnahm.
„Putins Freunde unter sich“, kommentierte die Frankfurter Allgemeine, denn AfD-Chef Tino Chrupalla, Egon Krenz und Gerhard Schröder waren dabei. Friedrich hingegen glaubt, dass er an vielen Veranstaltungen teilnimmt, an dem Tag war er bei den Amerikanern, bei den Israelis auch – „brauche ich dafür eine journalistische Erlaubnis?“
Die Frage ist berechtigt, aber der Bericht der Berliner Zeitung zu diesem Anlass reichte nicht aus, um die Kritik an der Straßennähe auszuräumen. Stattdessen veröffentlichte der Zeitungsredakteur einen Artikel, in dem er ohne kritische Einordnung russische Propaganda über angebliche neonazistische Russophobie in Europa und die glorreiche Rolle der Sowjetunion (ganz zu schweigen vom Hitler-Stalin-Pakt natürlich) zitierte.
Zum siebten Jahrestag der Annexion der Krim gab die Berliner Zeitung auch den russischen und ukrainischen Botschaftern in Deutschland die Gelegenheit, einen Gastbeitrag zu schreiben. Den Einwand, dass dadurch Angreifer und Angegriffener auf eine Stufe gestellt würden, lässt sich Friedrich nicht gefallen.
„Schweizer Zeitungen gaben auch im Zweiten Weltkrieg allen Seiten die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden. Und ich denke schon, sagt er. Die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven auf Russland und den Westen gehöre zur „Pflichtinformation“ seiner Zeitung: „Leser können selbst entscheiden, was cool ist und was nicht, was falsch ist und was nicht. Das bedeutet nicht, dass sie.“ mit etwas einverstanden sein»
Große Veröffentlichung
Auch Holger Friedrich vertritt zumindest aus journalistischer Sicht ansonsten unorthodoxe Ansichten zur „Informationspflicht“. Sie haben der Berliner Zeitung gewaltige Vorwürfe gemacht, darunter ein Verfahren vor dem Presserat und wiederholte Anspielungen auf die Stasi-Vergangenheit von Holger Friedrich. Folgendes geschah: Der 2021 entlassene Bilda-Chefredakteur Julian Reichelt überreichte Friedrich Dokumente, um ihn von einem Rechtsstreit mit dem ehemaligen Arbeitgeber Springer freizusprechen. Anstatt das Material seinen Herausgebern zu übergeben, beschloss Friedrich, Axel Springer über Reichelts Aktivitäten zu informieren – und die Akten zu vernichten.
Die deutschen Medien waren fast einhellig empört über den „Verrat“. Denn laut journalistischem Kodex dürfen sich Informanten nicht offenbaren. Holger Friedrich bestreitet dies nicht. Aus seiner „unternehmerischen“ Sicht ist die Sache klar: „Natürlich ist es einfach, den widerspenstigen Ossi Friedrich als ewigen Stasi-Spitzenreiter darzustellen“, sagt er. „Tatsache ist aber, dass Herr Reichelt auf äußerst unprofessionelle Weise persönliche wirtschaftliche Interessen durch mich durchsetzen wollte.“ Es ist ein Verbrechen.“
Reichelt hoffte wahrscheinlich, dass er Axel Springer immer noch hasste. Schließlich war es die Springer-Zeitung „Welt“, die 2019 Friedrichs Zustand in der Stasi veröffentlichte. Noch heute nennt er es „Charaktertötung“. Trotzdem wollte er dieses schmutzige Spiel nicht spielen.
Die Macht zwischen Herausgeber und Chefredakteur ist klar aufgeteilt
Journalistenseitig wird die Berliner Zeitung diesen Skandal höchstwahrscheinlich nicht ausnutzen. Nur noch wenige Whistleblower werden in Zukunft zur Zeitung gehen, wenn sie befürchten, rausgeschmissen zu werden. Der Chefredakteur Tomasz Kurianowicz sah sich daher verpflichtet, einen „Kommentar“ zum Thema zu veröffentlichen.
Darin versicherte er, dass der Quellenschutz weiterhin gelte. Letztlich akzeptierte er jedoch den Standpunkt des Verlegers, wonach es einen Unterschied zwischen einer unternehmerischen und einer redaktionellen Sicht auf die Dinge gebe. Die Episode mit Reichelt lässt erahnen, wie die Machtverteilung zwischen Kurianowicz und Friedrich erfolgt. Zumindest Friedrich wies nach seiner Rede für die NZZ darauf hin, dass er weder eine operative noch eine formale Rolle im Verlag habe – und dass es „etwas unfair“ wäre, darüber Stillschweigen zu bewahren.
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